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Pop-Explosionen, Popstar-Viren und poppige Döner-Songs - Teil 1

von Alp Geray

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

 

in den 1990ern gab es in der Türkei eine große Explosion - die sogenannte Pop-Explosion. Junge Türken wollten nicht mehr die Musik ihrer Eltern hören und auch nicht die importierten Hits aus Amerika. Was sie wollten war ein Mix: Moderne, westliche Dance-Beats mit türkisch-orientalischem Touch. Und siehe da - der "Türk-Pop" war geboren.

 

Die Nachfrage nach dieser neuen Musik wurde immer größer. Schon bald konnten die Plattenfirmen diese Nachfrage nicht mehr stillen. Sie fingen an, jeden unter Vertrag zu nehmen, der nicht bis drei auf den Bäumen war. So wurde musikalisches Talent allmählich zur Nebensache. Was zählte, war Massentauglichkeit. Die Medien erkannten den Trend und griffen ihn dankbar auf. Sie etablierten den Begriff "Pop-Explosion" und berichteten täglich von neuen Popsternchen, die den Musikmarkt regelrecht überfluteten.

Die permanente Berichterstattung im Fernsehen und in den Printmedien blieb nicht folgenlos. Es wurde eine Art Goldgräberstimmung erzeugt, in der suggeriert wurde, jeder könne ein gefeierter Popstar werden und damit viel Geld verdienen. Nicht nur Jugendliche infizierten sich mit diesem Popstar-Virus (PSV), auch ältere Menschen fühlten sich plötzlich zu einer großen Musikkarriere berufen.

 

Döner ist international

 

So ergab es sich, dass eines Tages Ali S. an die Tür meines Tonstudios klopfte. Ein stämmiger Mann, etwa 40 Jahre alt, mit Dreitagebart und leichtem Bauchansatz. Er war verheiratet, Vater von zwei Kindern und arbeitete damals in einem Döner-Imbiss in der Sonnenalle in Berlin-Neukölln.

 

Inspiriert durch seinen Job, hatte Ali den ersten Song seines Lebens geschrieben - einen Döner-Song. Der Titel: "Hayat Döner". Ein Wortspiel, das man übersetzen kann mit: "Das Leben dreht sich", "Das Leben kommt zurück" oder auch "Das Leben ist ein Döner". Musik und Text waren simpel gestrickt. Botschaft des Songs: Lebe, tanze, hab Spaß und iss dabei einen Döner.

Um das Motto seines Songs zu verdeutlichen, hatte sich Ali ein Döner-Kostüm für Live-Auftritte schneidern lassen und den Döner-Dance entwickelt, der daraus bestand, sich einfach nur zu drehen - wie ein Döner am Spieß. Geplant waren zudem eine Techno-Version des Songs, ein Musikvideo und eine Kooperation mit dem damals wohl bekanntesten türkischen Superstar Tarkan (bekannt durch seinen Hit "Şımarık"). Ein musikalisches Döner-Gesamtkonzept.

 

Voller Begeisterung erklärte Ali: Nicht nur der Song, vor allem das Konzept sei das, was zählt. Und da Döner international ist, hoffte er nicht nur auf Erfolg in der Türkei, sondern in ganz Europa, ja sogar in Asien und Amerika.

Ich habe Ali nicht gefragt, aber anscheinend war er wirklich davon überzeugt, er könne mit Tarkan auf einer Bühne stehen - beide verkleidet als Döner - den Döner-Tanz tanzen und dabei "Hayat Döner" singen. Allein schon die Vorstellung war absurd.

 

Damals schüttelte ich über so viel Inkompetenz und Selbstüberschätzung den Kopf. Heute weiß ich, dass dies typische Symptome sind, von Menschen, die sich mit dem PSV infiziert haben. Diese Menschen verlieren jegliche Fähigkeit, ihr musikalisches Können objektiv zu beurteilen. Sie neigen dazu sich selbst maßlos zu überschätzen und kommen dadurch auf die wahnwitzigsten Ideen.

Soviel ich weiß, wird dies auch als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet und ist eine mögliche Erklärung für ein aktuelles Problem unserer Zeit: Die Ignoranz gegenüber der Wissenschaft (Stichwort: Klima- und Corona-Leugner).

 

Alkohol, Spielsucht, kaputte Ehe

 

Wir einigten uns auf eine Zusammenarbeit und trafen uns am nächsten Tag in meinem Tonstudio. Schon bei der ersten Gesangsaufnahme wurde klar, Ali war gesanglich zu 100% talentfrei. Seine Stimme war dünn und quiekig. Schlimmer noch: Er traf nicht einen Ton. Heutzutage gibt es Software, mit der man falsch gesungene Töne automatisch korrigiert. Diese Technik steckte damals aber noch in den Kinderschuhen.

 

Egal was wir probierten, Ali konnte keine Strophe fehlerfrei durchsingen. So beschlossen wir jede Zeile des Songs einzeln aufzunehmen. Selbst das war für ihn eine so große Herausforderung, dass wir pro Zeile bis zu 20 Takes benötigten, bis etwas Brauchbares dabei war.

 

In den darauffolgenden Tagen lernte ich Ali besser kennen. Er arbeitete 60 Stunden die Woche bei einem Gehalt von 1300 DM. Er hasste seinen Imbiss-Job und seinen Chef. Dazu kamen Spielsucht und Alkoholprobleme. Wohlmöglich auch der Grund, warum seine Frau sich scheiden lassen wollte. Fast schien es, als wäre die Musik der letzte Strohhalm, an den er sich klammert, um seinem Leben die entscheidende Wendung zu geben.

Nach etwa zwei Wochen waren die Gesangs- und Instrumentalaufnahmen im Kasten. Mit allen mir bekannten technischen Tricks puzzelte ich Alis Gesangsfragmente zu einem Song zusammen und übergab ihm die Master-CD.

 

Kurz darauf reiste er nach Istanbul, um den Plattenfirmen seinen Song und das Konzept zu präsentieren. Wie ich später erfahren sollte - ohne Erfolg. "Hayat Döner" wurde nie veröffentlicht. Und das vollkommen zu Recht.

 

Jahre später traf ich Ali zufällig auf einem U-Bahnhof. Er erzählte mir, dass er als DHL-Fahrer arbeite. Außerdem hatte er sich von seiner Frau getrennt und war nun mit einer persischen Bauchtänzerin zusammen, die ihn anscheinend unentwegt ermutigte wieder Musik zu machen. Auch ich riet ihm dazu.

 

Nach meinem Rat, folgte Stille. Sein Kopf arbeitete. Dann sagte er: "Weißt du was, ich werde mich heute hinsetzen und einen neuen Song schreiben." Ich nickte wohlwollend. Die U-Bahn kam. Ali stieg ein und rief mir zu: "Wenn der Song fertig ist, ruf ich dich an!".

 

Ich habe nie wieder von ihm gehört.

 

Liebe Grüße

Alp


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Kommentare: 2
  • #1

    Jenny (Dienstag, 18 Mai 2021 18:41)

    Was für ein schöner Blog, aber irgendwie auch traurig. Ich frage mich, was wohl aus Ali geworden sein mag.

  • #2

    Pelin (Sonntag, 05 März 2023 07:43)

    Ali Bey için çok üzüldüm. Hayal kırıklığı gerçekten kötü bir şey.
    Çok güzel çaldınız, ellerinize sağlık. Çaldıklarınızın notalarını yayınlıyorsanız nereden bulabilirim?