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Jeder Weiße ist ein Trump

von Alp Geray

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

beim Müll rausbringen begegnete ich im Treppenhaus meinem Nachbarn. Ein älterer Herr, vielleicht um die 70. Wir betrieben ein wenig Smalltalk und scherzten lapidar über Donald Trump, seine Coronainfektion und die wundersam-göttliche Heilung. Als wir vor den Mülltonnen standen, nahm das Gespräch einen unerwarteten Verlauf. Mein Nachbar sagte: "Wer WAHRE Gerechtigkeit will, muss Trump wählen."

 

Während ich kurz überlegte, wie ich diese Aussage deuten soll, fuhr er fort: "Trump ist nur das Symptom unserer kranken, privilegierten, westlichen Welt. Unserer WEIßEN Welt. Nimm jeden Weißen, der in den letzten 400 Jahren geboren wurde, steck ihn in den Mixer, rühr kräftig durch, was kommt raus? Richtig! Trump! Donald Trump ist der Durchschnitt aller weißen Menschen seit dem atlantischen Sklavenhandel."

"Wir sind Rassisten"

 

Ich zuckte mit den Schulter: "Ich weiß nicht..." Er rückte näher an mich heran, als wolle er mir gleich ein großes Geheimnis anvertrauen. "Ja, du weißt nicht, aber ich. Ich forsche seit über 50 Jahren an dem Thema. Wir Weißen sind, auf einen Nenner gebracht, rücksichtslose Egoisten. Wir sind selbstsüchtig und rassistisch. Damit meine ich nicht nur Trump- oder AfD-Wähler. Von den Nazis und Faschisten will ich gar nicht reden. Ich meine alle. Du, ich, meine Frau, alle hier im Haus. Wir sind Rassisten. Wirtschaftsrassisten, Kulturrassisten. Jeder Weiße ist ein Trump."

 

"Ich kann Ihnen versichern, dass ich kein Rassist bin. Und mit Trump hab ich auch nichts am Hut", sagte ich und versuchte das Gespräch wieder in normale Bahnen zu lenken. Doch sein Redefluss war nicht zu stoppen.

 

"Unser Wohlstand basiert auf dem Leid der anderen"

 

"Donald Trump ist ein Mahnmal. Er erinnert uns jeden Tag daran, wie abartig wir sind. Ja, ABARTIG. Unser Wohlstand basiert auf dem Leid der anderen. Wir wissen es, ändern aber nichts daran. Wir lassen Menschen in Afrika und Asien für uns arbeiten, für einen Hungerlohn. Wir bomben ihre Länder in Schutt und Asche und nennen es Terrorismusbekämpfung. Und wenn diese Menschen in größter Not zu uns kommen, lassen wir sie im Mittelmeer ersaufen. Wir lassen sie in Lagern leben, wie Tiere, weil wir nicht wollen, dass noch mehr kommen. Das ist abartig. Und warum das alles? Weil wir Weißen nicht bereit sind unseren Wohlstand mit anderen zu teilen. So funktioniert das WEIßE System. Verstehst du?". Ich verstand nur, dass ich aus der Nummer raus muss, aber er ließ nicht locker.

"Donald Trump ist nichts anderes als unser eigenes, perverses Spiegelbild. Deshalb machen wir uns über ihn lustig. Wir nennen ihn einen Idioten, einen Rassisten, aber nur, um uns nicht mit unserer eigenen Idiotie, unserem eigenen Rassismus zu beschäftigen." Er holte kurz Luft und weiter ging es.

 

 "Die Lösung ist: Revolution!"

 

"Dieses System lässt sich nicht von innen reformieren, es muss zerstört werden, ohne Wenn und Aber. Die Lösung ist: Revolution! Revolution bedeutet Krieg. Das ist die einzige Chance dieses unmenschliche System zu beseitigen. Und wie kommen wir zu einem Krieg? Durch die Wiederwahl von Trump. Denn, wenn Trump wiedergewählt wird, gibt es früher oder später einen Bürgerkrieg in den USA. Und das wird zu einem Weltkrieg führen. Ein Krieg, in dem jeder gegen jeden kämpft. Rechts gegen Links, Arm gegen Reich, Schwarz gegen Weiß, Christen gegen Muslime, Muslime gegen Juden. Und wenn am Ende die Welt zerstört ist, bauen die Menschen, die noch am Leben sind, eine neue Welt auf. Eine friedliche, eine gerechte Welt."

"Wie jetzt, Krieg soll die einzige Lösung für Frieden und Gerechtigigkeit sein, glauben Sie das wirklich?", fragte ich ihn. Er ordnete kurz seine Gedanken und wollte zur Antwort ansetzen. Plötzlich öffnete sich ein Fenster. Eine Frau schaute hinaus und rief: "Jochen, wo bleibst du denn!? Mein Gott, du solltest nur den Müll runter bringen." Jochen lächelte. Dann nickte er mir freundlich zu und ging ohne ein weiteres Wort.

 

Liebe Grüße

Alp


Das Video

Eine kleine Home-Produktion mit einem alten Freund: Ferhat Güneyli.

Der Song heißt "Ağladıkça", eine Komposition von dem bekannten Musiker und Oud-Spieler Ara Dinkjian.

Viel Spaß.


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Kommentare: 2
  • #1

    Anna (Sonntag, 16 Mai 2021 08:53)

    Das ist eine sehr witzige spritzige Geschichte! Mehr davon!

  • #2

    Krissy (Donnerstag, 20 Mai 2021 08:46)

    Beachtlicher Nachbar, das muss ich sagen. Krieg ist zwar nie eine Lösung, meine Meinung. Aber mit der Selbstkritik unserer weißen westlichen Gesellschaften hat dein Nachbar schon recht. Wir sind jetzt weiter, Trump ist nicht wiedergewählt worden. Und trotz allem bedeutet das für mich eine große Erleichterung. Schreib weiter deine Blogs, sie regen auf jeden Fall an zum Nachdenken!